Ur-Tantra - Quellen des Tantra
Über Tantra gibt es viele Definitionen und Ansichten, die manchmal recht unterschiedlich sein können. In dieser Übersicht stellen wir tantrische Bezeichnungen und Strömungen in Indien, Nepal und Tibet vor. Wir erläutern, wie wir sie im Erfahrungskreis in der Regel verwenden und erwähnen ebenfalls, aus welchen Quellen des Ur-Tantra wir unsere Praxis beziehen.
Linkshändiges – rechtshändiges Tantra
Als rechtshändiges Tantra wird meist eine Lebensweise und spirituelle Praxis verstanden, die wichtige Gebote der religiösen Kultur befolgt, z.B. keine Tiere töten, kein Fleisch essen oder ganz vegan sein (also auch keine Kleider und Schuhe aus Tiermaterial tragen), keinen Alkohol trinken, nicht Rauchen, Schuhe vor dem Tempelbesuch ausziehen, in Tempelanlagen rechts herum gehen und einiges mehr.
Im linkshändigen Weg geht man eher davon aus, dass alles zusammen gehört, um ganz zu sein oder mit der vollständigen göttlichen Schöpfung verbunden zu sein. Nichts soll als schlecht bezeichnet, unter den Teppich gekehrt oder als Tabu ausgegrenzt werden. Das wird auch als ein Ansatz verstanden, Polaritäten wie richtig oder falsch, gut oder böse, lichtvoll oder dunkel usw. zu überwinden. Das soll nicht nur als Absicht oder als mentales Konstrukt verstanden, sondern gelegentlich auch ganz konkret durch physische Praxis gelebt werden. Im linkshändigen Weg werden manchmal bewusst Gebote der religiösen Kultur durchbrochen, vor allem die fünf Makara oder kurz «M», wie sie in Indien genannt werden:
- Matsya (Fisch): Fisch fangen und Kali-Bhairava opfern/offerieren
- Mamsa (Fleisch): Ziegen oder weitere Tiere opfern
- Mudra (Holzring im Ohr): Eine Kamasutrapraxis ausüben
- Maidhuna: Ritual mit sexueller Vereinigung pflegen
- Madira: Wein, Liqueur oder sonstige Rauschmittel zu sich nehmen
In der Kundalini-Praxis des rechtshändigen Tantra werden diese fünf «M» nicht konkret physisch gelebt, sondern symbolisch verstanden und genutzt:
- Matsya weist auf die Augen des Fisches, die oben weiss und unten schwarz sind. Es erinnert uns an die Meditationspraxis des Shambhavi Mudra, wo wir mit beiden Augen ins dritte Auge hinauf schauen und damit das Tor zu einer tieferen Erfahrung finden können.
- Mamsa verweist auf die rote Farbe des Fleisches und kann uns an unsere rote Zunge. Es erinnert uns an die Meditationspraxis des Khechari Mudra, wo die Zunge zurückgerollt und an den hinteren oberen Gaumen gedrückt wird. Das kann das Tor zu einer Glückseligkeitserfahrung öffnen.
- Mudra könnte bedeuten, dass die ersten beiden oder alle Übungen zusammen ausgeführt werden und damit noch wirkungsvoller sind.
- Maidhuna kann symbolisch für den Lotossitz oder den Schneidersitz verstanden werden und für die Verbindung oder Vereinigung des 1. Chakras (weiblich) mit dem 7. Chakra (männlich). In der Wirbelsäule kann dann die Kundalini-Energie wirken und eine Einheitserfahrung ermöglichen.
- Madira steht dann für das Geschenk, das durch die Praxis der erwähnten Elemente entstehen kann: Nektar (Amrita) fliesst, wird von der Zunge am Gaumendach empfangen und wird von dort im ganzen Körper verteilt. Eine lichtvollere, strahlende Persönlichkeit entsteht.
Weisses – rotes – schwarzes Tantra
Weisses Tantra kann gleichgesetzt werden mit rechtshändigem Tantra.
Rotes Tantra ist vergleichbar mit linkshändigem Tantra.
Schwarzes Tantra nutzt auch eine magische Praxis, die obskur sein kann, ähnlich wie schwarze Magie und nicht mehr ohne weiteres mit unseren ethischen Vorstellungen übereinstimmt.
Ur-Tantra und Neo-Tantra
Ur-Tantra wird gelegentlich verwendet für ursprüngliche tantrische Praxis des indischen Subkontinents.
Neo-Tantra ist eine von Osho beeinflusste Variante des Ur-Tantra, in der westliche Psychologie, die Ausgelassenheit und Wildheit der Hippie-Bewegung, Körperarbeit, Sexualität und Kommunikation Platz finden.
Hauptströmungen des Ur-Tantra und unsere Quellen
Im hinduistisch geprägten Ur-Tantra Indiens gibt es drei Hauptströmungen:
Shaiva (Shivaiten, Anhänger:innen Shivas), Vaishnava (Vishnuiten, Anhänger:innen Vishnus) und Shakta (Anhänger:innen der Shakti). Es gibt noch weitere Strömungen, wie z.B. Sikkhismus, Jainismus und Buddhismus. Und von all diesen Strömungen gibt es weitere Zweige mit eigenen Namen, die gelegentlich auch in unserem Kulturkreis auftreten, was für uns im Westen recht verwirrend werden kann.
Im Erfahrungskreis wenden wir ein paar Methoden des kashmirischen Shivaismus von Nordindien an. Vom Sanskrit-Gelehrten und praktizierenden Tantriker Prof. Dr. Vagish Shastri in Varanasi haben einige aus unserem Kreis die Kundalini- und Chakren-Meditationen gelernt. Verena und Remy haben von ihm eine Einweihung (Diksha) in seine spirituelle Linie erhalten, die auf Matsyendranath und Gorakhnath zurück führt.
Aus der Haupströmung der Shakta haben einige aus unserem Kreis die Philosophie und Praxis in Devipuram kennenlernen dürfen, z.B. die Bedeutung und Anwendung von Yantras, Ritualen und ein paar eher körperbasierten Methoden, die wir gelegentlich anwenden. Weitere Aspekte des tantrischen Shaktismus können wir aus Texten des englischen Tantrikers John Woodroffe aus dem ersten Drittel des 20. Jahrhunderts entnehmen. Weitere westliche Gemeinschaften sind von diesen zwei Quellen beeinflusst, z.B. SkyDancing Tantra und das Diamond Lotus Institut.
Im tibetischen Buddhismus gibt es Hauptströmungen wie z.B. Gelug, Kagyü, Nyingma, Sakya und Bön. Im Erfahrungskreis haben ein paar von uns tantrische Praxis bei den Karma Kagyü und bei den Gelug gelernt und gelegentlich eine Methode angewendet. In der Yab-Yum-Praxis und der Welle der Glückseligkeit von westlichen Gemeinschaften und von uns gibt es Visualisierungen, die Elemente aus jener tantrischen Praxis enthalten.
Es gibt viele weitere Strömungen, die weit über Tibet und Indien hinaus gehen, z.B. Tao, Chan, Sufismus. Der Methodenschatz dieser Traditionen ist enorm gross, manchmal auch recht unterschiedlich und nicht immer anwendbar für uns westliche Menschen.
Tantra als vermeintliches Synonym für sexuelle Praxis
Sexualität hat in unserer traditionellen Gesellschaft immer noch ein etwas anrüchiges Ansehen. So neigen Anbieter und Konsumenten von sexuellen Dienstleistungen dazu, andere Wörter zu finden, z.B. Erotik, Liebe machen oder eben auch Tantra. Das mag mit ein Grund sein, wieso die Öffentlichkeit Tantra mit dem Rotlichtmilieu oder nur mit sexuellen Praktiken in Verbindung bringt.
Nur weil einige Tantriker:innen die Sexualität nicht ablehnen und eine Minderheit sie in ihre Praxis einbezieht, muss Tantra noch nicht mit Sexualität gleichgesetzt werden. Dieses Missverständnis ist etwa gleichbedeutend, wie wenn wir die Ehe mit Sexualität oder ein Hotel mit Bordell gleichsetzen würden, nur weil dort gelegentlich auch Sexualität gepflegt wird.
Tantra als wissenschaftliche oder spirituelle Schriften
Tantra ist auch altes Wissen, das in spätvedischen Schriften oder Agamas festgehalten ist. Diese Schriften gehen zurück bis einige hundert Jahre vor unserer Zeitrechnung. Noch heute gibt es in Ayurveda-Ausbildungsgängen von indischen Fachhochschulen und Universitäten Bezeichnungen mit dem Wort Tantra, z.B. Shalya Tantra (Chirurgie), Shalakya Tantra (Ophtalmologie), Vish Tantra oder Agad Tantra (Toxikologie), Kaumar bhrutya tantra (Pediatrie).
Es gibt auch viele Tantras, in denen Shiva seiner Shakti Fragen stellt und dann von ihr Antworten erhält (und umgekehrt). Im Buddhismus können es Dialoge von Buddha mit einer Versammlung von Gottheiten oder eine tiefe Praxis von einem buddhistischen Meister mit seiner Dakini sein.
grobstofflich – feinstofflich – kausal
Diese Wörter bezeichnen Zustände der Welt oder der Praktizierenden, egal, ob links- oder rechtshändig. Sie werden in weit mehr Kreisen als nur im Ur-Tantra benutzt.
In der yogischen Weltanschauung nach unserem tantrischen Lehrer Vagish Shastri in Varanasi ist das Subtile das stärkste oder mächtigste, u.a., weil es überall sein kann, unabhängig von Zeit und Raum. Das Grobstoffliche ist nach der yogischen Weltanschauung am wenigsten wirkungsvoll und kräftig. Das widerspricht vermutlich unseren Alltagsvorstellungen, aber kann mit etwas Reflexion und Geduld unsere materialistisch geprägte westliche Denkweise um neue Dimensionen erweitern. Feinstofflich ist ein Zustand zwischendrin, z.B. wie ein Traumzustand.
Nach der Unterteilung „Kaula, Mishra, & Samaya“ von Swami Jnaneshvara führt die anfänglich äussere Praxis von Kaula über Mishra (gemischte Form) mehr und mehr zu einer rein inneren Praxis von Samaya. Ähnliche Auffassungen mit unterschiedlichen Bezeichnungen bestehen in weiteren tantrischen Linien.
Wir nutzen grobstofflich, feinstofflich und subtil vor allem in unseren Meditationen, in feinstofflicher Heilarbeit und in der Reflexion unseres Bewusstseins. Gelegentlich hören wir zur Unterstützung binaurale Töne, um leichter in die erwünschten Zustände zu gelangen und tiefere Erfahrungen zu machen.
innerlich – äusserlich
Diese Begriffe wenden wir manchmal für Meditationen und für Energielenkung an, z.B. etwas äusserlich oder innerlich zu sehen oder zu hören. Das hat eine Ähnlichkeit mit grobstofflich und feinstofflich. Nach der yogischen Weltanschauung unseres tantrischen Lehrers Vagish Shastri ist es besonders wirkungsvoll, einen Ton innerlich zu hören und ihn ausbreiten zu lassen. Ähnliches gilt auch für ein Bild, ein Wort, ein Mantra, ein Mudra (eine Fingerhaltung oder eine Kombination mit weiteren Elementen), eine Körperhaltung oder eine Bewegung.
Einige Praktizierende verstärken das noch durch besonders liebevolle, freudige oder ekstatische Emotionen. In sexuell basierter Körperarbeit werden daher Absichten, Wünsche und innere Wahrnehmungen mit besonders lustvollen Momenten verbunden und unseren lichtvollen Begleitwesen oder Gött:innen übergeben oder ins Universum geschickt.
Tantra als Weg in permanenter Entwicklung –
Eine historische und evolutive Sicht
In den Frühphasen des Tantra (die laut einzelnen tantrischen Meistern bis mehrere Tausend Jahre vor Christus zurück gehen) gab es Schulen und Praktiken, die noch nicht die Worte Tantra und Kundalini anwendeten. Auch im Atharvaveda (einer zu den Veden gehörige Schrift, einige hundert Jahre vor Christus) sind manche heute bekannte Begriffe noch nicht zu finden. Vermutlich war Tantra damals noch nicht so differenziert aus den damaligen eher magischen Strömungen zu orten.
Wir dürfen ebenfalls annehmen, dass fast jede tantrische Methode der damaligen Zeit auch in schamanischen Strömungen oder Religionen rund um die Welt vorkommt und dass es heute schwierig ist herauszufinden, wer der „Erfinder“ einer bestimmten Praxis ist. Tantra in der Bedeutung von „Verweben“ und „Verbinden“ hatte keine Berührungsängste zu Methoden aus anderen Religionen und Schulen und übernahm einfach das, was die Praktizierenden weiter bringt.
Tantra erhielt eigentlich erst ab dem 7. Jahrhundert nach Christus Praktiken und Schulen in einer Systematik, wie wir sie heute kennen, z.B. durch Matsyendranath, Goraknath und Padmasambhava.
Tiefer führende Texte
Georg Feuerstein: The Yoga Tradition: It’s History, Literature, Philosophy and Practice. (Hohm Press; 3rd Edition) 2013
Georg Feuerstein: The Encyclopedia of Yoga and Tantra. The Encyclopedia of Yoga and Tantra. Boulder (Shambhala) 2022 (Erstausgabe 1997).
Katharina Kleinrath: Sexualität als Instrument der Befreiung. Transformation der sexuellen Energie im Tantrismus. Wien (Magisterarbeit an der Uni Wien) 2010. Online verfügbar: http://othes.univie.ac.at/8474/1/2010-02-08_0408783.pdf
Lilian Silburn: Kundalini und Tantra. Die geheimnisvolle Lebenskraft des Menschen. Ein tantrisches Einweihungsbuch. Grafing (Aquamarin) 2020 (Franz. Erstausgabe 1983)
David Gordon White: Kiss of the Yogini: „Tantric Sex“ in its South Asian Contexts. Chicago and London (The University of Chicago Press) 2006
David Gordon White: Tantra in Practice. Princeton and Oxford (Princeton Readings in Religions. Princeton University Press) 2018
Jules Zimmermann: Askese in Indien – Eine Einführung. In diesem online verfügbaren Artikel werden viele Yoga- und Tantra-Linien vorgestellt.
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